von Jane Whyatt
In Zeiten von Dating-Apps wie Tinder und Bumble erscheint die Kunst des Ständchensingensaltmodisch. Doch im kleinen Dorf Cañar bei Granada, Spanien, lebt diese Tradition weiter. Jedes Jahr am 28. Dezember ziehen die jungen Männer des Dorfes ab zwei Uhr morgens los, um die jungen Frauen mit Musik und Gesang unter ihren Balkonen zu serenadieren – genau wie Romeo und Julia.
Eine Nacht voller Serenaden und Fröhlichkeit
Die Männer ziehen mit Gitarren, Akkordeons, Maracas und sogar Gabeln, die sie auf Flaschen mit Anislikör schlagen, durchs Dorf. Ihre Gesichter bemalen sie mit roten Namen und Symbolen, um Missverständnisse zu vermeiden. Neben dem lokalen Rotwein sorgt auch die musikalische Begleitung für ausgelassene Stimmung. Mittlerweile sind auch Flaschen Baileys beliebt. Bis zu vierzig Sänger machen die Nacht mit Maracas, Becken und Tamburinen lautstark zu einem unvergesslichen Erlebnis.
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Robin Smith, ein Ferienhausbesitzer in Cañar, kommentierte am Nachmittag nach dem Fest:
“Ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen, aber es ist erstaunlich, dass die Party immer noch im Gange ist.”
Sein Ferienhausgeschäft boomt, denn viele Aktivurlauber erkunden die Alpujarras auf den zahlreichen Wanderwegen. Einer davon, der Europäische Wanderweg GR 47, folgt der antiken Handelsroute von Tarifa bei Gibraltar bis nach Delphi in Griechenland. Hunderte Mountainbiker messen sich auf den steilen Straßen, die zu dem auf 1.040 Metern gelegenen weißen Dorf führen. Eine Durchgangsstraße gibt es nicht, weshalb auch der Rückweg eine Herausforderung bleibt – spektakuläre Ausblicke entschädigen jedoch für die Strapazen.
In der ruhigen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, der sogenannten “Twixmas”-Phase, sind Wanderer und Radfahrer jedoch selten anzutreffen. Das música de las mozuelas-Fest ist ohnehin kein touristisches Ereignis – und will es auch nicht sein. Obwohl der Termin und die Route auf einer blau-weißen Keramikkachel am Dorfeingang markiert sind, ist dies ein Fest der Dorfbewohner, an dem jede Familie teilnimmt – von Grundschulkindern bis hin zu älteren Witwen, die gerne von Nachbarn, Söhnen und Enkeln besungen werden.
Ein Fest vereint die Gemeinschaft
Bürgermeister Manuel Alvarez Guerrero (PSOE-A, Sozialistische Arbeiterpartei Andalusiens) ist stolz darauf, dass die Tradition fortbesteht:
“Die Bevölkerung von Cañar vervielfacht sich während dieses Festes. Es herrscht eine sehr lebhafte Atmosphäre, da viele Menschen aus verschiedenen Ecken der Region und darüber hinaus kommen, um für die mozuelas zu singen.”
Die Dorfgemeinschaft ist klein. Laut der Website der Gemeinde zählt Cañar 397 Einwohner, davon 211 Männer und 186 Frauen. Vielleicht hält diese Geschlechterverteilung die Serenaden-Tradition am Leben: Bei weniger Frauen müssen sich die Männer besonders ins Zeug legen, um Eindruck zu machen.
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Wahrscheinlicher jedoch ist es die berühmte spanische Liebe zu ausgelassenen Festen. Diese Feier dauert die ganze Nacht und endet um zehn Uhr morgens mit einem gemeinsamen Frühstück in der Dorfbar. Danach schließen sich verheiratete Männer und ältere Dorfbewohner der Runde an, die dann an den letzten Serenaden-Orten weitermachen. Diesmal bitten sie um Spenden, die in einer Spardose gesammelt werden.
Historische Wurzeln und poetische Verbindungen
Die Geschichte des Dorfes ist tief in der andalusischen Kultur verwurzelt. Die Kirche Santa Ana, an der ein großes Lagerfeuer entzündet wird, steht an der Stelle einer ehemaligen Moschee und erinnert an die Vertreibung der Mauren 1492.
Der berühmte spanische Dichter Federico García Lorca besuchte Cañar 1926. Sein Besuch inspirierte ihn zu dem Gedicht La Casada Infiel (Die untreue Ehefrau), das auf einem lokalen Volkslied basiert. Es erzählt von einem Mann, der eine junge Frau (mozuela) verführt – nur um später zu erfahren, dass sie bereits verheiratet ist. Zitate aus Lorcas Werken sind heute auf Kacheln im Dorf verewigt, und eine Infotafel beschreibt seine Verbindung zur Region.
Ein Fest für alle Generationen
Am 29. Dezember setzt sich das Fest fort. Die Dorfbewohner und ihre Gäste tanzen um das Lagerfeuer, den Brunnen und den Weihnachtsbaum, begleitet von Feuerwerk, Luftschlangen und Luftballons.
Und was geschieht mit der Spardose? Sie wird feierlich zerbrochen, und die gesammelten Münzen und Scheine finanzieren Süßigkeiten und Geschenke für die Kinder beim nächsten Fest. Dieses ist nur eine Woche später, wenn die Heiligen Drei Könige (Tres Reyes) in Cañar eintreffen, um dem Jesuskind Gaben zu bringen. In den Bergen kommen sie jedoch weder auf Kamelen noch auf Eseln – Melchior, Caspar und Balthasar fahren mit einem Traktor durchs Dorf.
Aber das ist eine andere Geschichte…